Die "Todeschi de Bolzan"
Als ich ab März 1966 in der Region arbeitete, begann ich besser zu verstehen, wer die „Todeschi de Bolzan“ – so nannten wir die deutschsprachigen Südtiroler am Trentiner Sulzberg, meiner Heimat – eigentlich waren. Ich bedauerte, dass mir während der Schulzeit die Geschichte und die Identität meiner Nachbarn nicht besser erklärt worden waren.
Paolo Magagnotti, geboren in 1941 in
Crevalcore (Bologna) und aufgewachsen
im Trentino, Journalist, derzeit Präsident
der Vereinigung europäischer Journalisten
und der deutsch-italienischen Gesellschaft
für Europa. Verfasser zahlreicher
Publikationen über die Autonomie des
Trentino und Südtirols sowie über die europäische
Integration.
In der Region herrschte in den 60er Jahren
ein angespanntes Klima. Diese Anspannung
war eine Konstante in der Südtirol-
Politik dieser Zeit. Meine Südtiroler Kollegen
forderten mehr Autonomie für ihr Land.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag,
als ich in mein Büro zurückkehrte und Albin
Stimpfl, ein Südtiroler Kollege, von der
gegenüberliegenden Straßenseite auf mich
zukam. Er winkte mit der „Dolomiten“ in
der Hand und rief freudig: „Paolo, Paket in
Sicht!“
Die SVP setzte ihre Hoffnungen in den
Artikel 14 des Autonomiestatuts, der vorsah,
dass die regionalen Befugnisse an die Provinzen
übertragen werden. Wegen der kurzsichtigen
Haltung Roms sowie der fehlenden
Sensibilität des Trentino wurden diese
Hoffnungen aber enttäuscht. Man wird der
Angelegenheit jedoch nicht gerecht, wenn
man das Südtirol-Problem in den 50er und
60er Jahren auf die dehnbare Formulierung
des Artikels 14 beschränkt. Ohne Zweifel hat
auch die die Trentiner Realpolitik einen guten
Teil der Schuld am Scheitern des ersten
Autonomiestatuts. Die Trentiner waren auch
dem Druck der italienischen Politiker Südtirols ausgesetzt, die in einer Landesautonomie
Vergeltungsmaßnahmen seitens der
deutschen Sprachgruppe befürchteten.
Region eine leere Hülse
Erst nach der Genehmigung des Pakets
und der Verabschiedung des neuen Autonomiestatuts
im Jahr 1972 hat die Autonomie
einen neuen Aufschwung erlebt. Leider
wurden nicht alle Chancen ergriffen, die ein
gemeinsames Wachsen von Südtirolern und
Trentinern im Sinne des vereinten Europas
ermöglicht hätten. In der Region wurde nach
Jahren der Spannung die Zusammenarbeit
mit der SVP wieder aufgenommen. Die Volkspartei
hat jedoch die Idee der Landesautonomie,
losgelöst von der Region, weiter konsequent
verfolgt und die Region wurde immer
wieder als „leere Hülse“ bezeichnet.
Es ist eine schwierige Aufgabe, etwas mit
Leben zu füllen oder auch nur am Leben zu
erhalten, das ein wesentlicher Partner – in
diesem Fall die Südtiroler – aushöhlen will.
Den Trentinern kann
man vorwerfen, dass
sie nicht entschieden
und überzeugt genug gehandelt haben,
um die erhebliche Schwächung der Region
zu verhindern. Heute ist es um die Region
trauriger denn je bestellt.
Der Pariser Vertrag ist im Guten wie im
Schlechten der Ausgangspunkt der Autonomie.
Will man dieses Abkommen bewerten,
dürfen die gesamtstaatlichen politischen
Rahmenbedingungen und die internationale
Situation nicht vergessen werden. Von der
Unterzeichnung des Vertrags ist nicht einmal
ein Foto geschossen worden.
Der auf Maschine
geschrieben Text
wurde handschriftlich
korrigiert.
Ich verstehe zwar
die Ressentiments der
deutschsprachigen Südtiroler
gegenüber Degasperi,
aber ich kann einfach
nicht glauben, dass er die
Ausweitung der Autonomie
auf das Trentino ausgehandelt
hat, um die Südtiroler
zu verraten. Selbst Karl Gruber, mit dem ich darüber unterhalten habe,
schließt dies aus. Überzeugender sind für
mich die Sätze, die Gruber im September
1976 anlässlich des dreißigsten Jubiläums
der Unterzeichnung des Pariser Vertrags eigenhändig
schrieb: „Ministerpräsident Alcide
Degasperi hat sowohl das Abkommen wie
auch die autonomen Einrichtungen selbst
als einen Vorläufer echter europäischer Gesinnung
bezeichnet. Ich habe ihm dabei von
vollem Herzen beigestimmt“.
Südtiroler Ressentiments
Wenn sich die Zusammenarbeit zwischen
Trentinern und Südtirolern nicht so entwickelt
hat, wie es sich Gruber und Degasperi
vorgestellt hatten, so darf man dies nicht
einfach den beiden Vertragsunterzeichnern
ankreiden. Die Südtiroler hatten schon immer
eine Abneigung gegen den „Auslegungsrahmen“
des Pariser Vertrags. Abgesehen
davon glaube ich, dass ein Verrat – wenn es
denn einen gegeben hat – mit aller gebotenen
Vorsicht den Trentinern vorgeworfen
werden kann. Sie haben die klare Botschaft
Degasperis – die Zusammenarbeit „für die
Bruderschaft der Völker“ – nicht angemessen
begriffen. Deshalb konnten sie seine vorausblickende
europäische Vision nicht umsetzen.
Diese Zusammenarbeit wäre ein Experiment
gewesen, das auch vom italienischen
Nationalstolz einige Opfer abverlangt hätte.
Wenn man im Trentino mit mehr Entschlossenheit
das hauptsächlich in italienischen
Kreisen Südtirols proklamierte
„Siamo in Italia, si parli italiano“ zurückgewiesen
und sich mehr darum bemüht hätte,
die Kenntnis der deutschen Sprache zu verbreiten
und sie im Trentino zur Zweitsprache
und nicht zur Fremdsprache zu machen,
hätte sich die Geschichte unserer Autonomie
anders entwickelt.
Heute ist es der deutschen Sprachgruppe de
facto gelungen, den Pariser Vertrag nach ihren
anfänglichen Vorstellungen umzusetzen.
Die Überreste der Region können die für die
Südtiroler Bevölkerung grundlegenden Entscheidungen
weder beeinträchtigen noch beeinflussen.
In einem Klima, das sich von den
schwierigen Jahren der Unterzeichnung und
ersten Umsetzung des Vertrags deutlich unterscheidet,
haben sich das Trentino und Südtirol
verpflichtet, ihre Bevölkerungen auf dem Weg
ins neue Europa und in die globalisierte Welt
zu begleiten. Abgesehen von den politischen
Kontakten und Lippenbekenntnissen, müssen
sich nun die Menschen an dieser Reise beteiligen.
In diesem Sinne müssen sich meines Erachtens
die Vertreter aller Sprachgruppen mit
den hehren europäischen Ansprüchen von
Gruber und Degasperi identifizieren und sie
zu ihren eigenen machen.